Übergänge vom Stand zum Boden

Übergang vom Stand- zum Bodenkampf (Kennzeichnung und Verhaltensweisen)
Dr. Hans-Jürgen Ulbricht

Gezielte Wettkampfanalysen haben ergeben, dass pro Judokampf durchschnittlich 4 bis 6 Ereignisse auftreten, bei denen die Kämpfer auf eine Weise vom Stand zum Boden gelangen, wo eine unmittelbare Fortsetzung der Aktionen für einen der Kämpfer deutliche Vorteile und Möglichkeiten zu Wertungen gebracht hätte (RADFAN 1987). Die bewusste Nutzung bzw. Herausarbeitung dieser Übergänge kann also kampfentscheidende Bedeutung haben. Sie sind Bestandteil einer modernen, siegorientierten Kampfesweise und haben einen festen Platz in den individuellen Kampf- und Trainingskonzeptionen leistungsstarker Judokas.

Unter den Trainern und Übungsleitern sind die Vorstellungen zu diesem bedeutsamen Teilbereich des Judokampfes differenziert. Das Verständnis ist häufig noch darauf eingeengt, nur Angriffe zum Erzwingen des Bodenkampfes mittels Aktionen, die nicht im klassischen Sinn als Judotechniken gelten, darunter zu zählen.

Wir meinen, dass solche Auffassungen die Vielfalt der Situationen, bei denen die Kämpfer vom Standkampf in den Bodenkampfgelangen, nicht berücksichtigen. Zum anderen wird der Bezug zu den Wettkampfregeln vernachlässigt.

Die ausführliche Bestimmung der regelgerechten Möglichkeiten des Übergangs zu Ne-waza (Bodenarbeit) im Artikel 16 der Kampfregeln der Internationalen Judo-Föderation widerspiegelt nicht zuletzt den Stellenwert dieser Kampfphasen.

Obwohl diese Übergänge ein breites Feld für eine wirksame und originelle Kampfgestaltung bieten, ist es erstaunlich, dass der Übergang vom Stand- zum Bodenkampf in der Fachliteratur nur wenig Berücksichtigung findet. Nur in einigen Büchern (z.B. OKANO 1976) findet man Beschreibungen von einzelnen ausgewählten technischen Lösungen Eine erste Voraussetzung für gezielte methodische Ableitungen zur Entwicklung der Befähigung, den Übergang vom Stand- zum Bodenkampfwirksam zu beherrschen, ist die Einordnung und Eingrenzung dieser Kampfphasen. Vorschläge zur näheren Kennzeichnung dieses Kampfabschnittes haben FRIEDRICH u.a. (1977) und LEHMANN; MÜLLER-DECK (1987) erarbeitet. Unter Beachtung dieser Portionen und auf Grundlage weiterer zielgerichteter Untersuchungen von RADFAN (1987) wird im folgenden dargestellt:

  • Abgrenzung und Beschreibung der Kampfphase Übergang Stand/Boden in Form einer Definition und eines Verlaufsmodells
  • Charakterisierung allgemeingültiger Verhaltensweisen differenziert nach Ober- und Unterlage als Empfehlung für die methodische Entwicklung

Wir beabsichtigen damit einen Beitrag zu einer Vervollkommnung und auch Vereinheitlichung der Auffassungen über dieses wichtige Bindeglied zwischen den beiden großen Bereichen Stand- und Bodenkampf.

Beschreibung der Kampfphase "Übergang vom Stand- zum Bodenkampf”

Der Übergang vom Stand- zum Bodenkampf ist stets Teilergebnis des Standkampfes und notwendige Voraussetzung für den Beginn des Bodenkampfes. Er ist durch einen komplexen, dynamischen, sich schnell vollziehenden Situationsverlauf charakterisiert. Bei durchschnittlich 4 - 6maligem Auftreten pro Kampf wurden bei einer Kampfzeit von effektiv 5 Minuten ein Zeitumfang von etwa 20 Sekunden ermittelt. Das entspricht einem Anteil von 6% der gesamten Kampfdauer. Trotz dieser relativ kurzen Zeit - im Einzelfall von wenigen Zehntel bis mehreren Sekunden - hat die gezielte Nutzung oder Nichtbeachtung oftmals kampfentscheidende Folgen.

Unter Berücksichtigung räumlich-dynamischer Vollzugsmerkmale formulieren wir folgende Begriffsbestimmung der Kampfphase "Übergang vom Stand- zum Bodenkampf":

Durch eigene Aktivität oder durch Einwirkung des Gegners verliert mindestens einer der beiden Kämpfer sein Gleichgewicht, berührt in Folge dessen mit mindestens einem Körperteil oberhalb der Knie die Matte und gelangt somit in die Bodenlage. Übernimmt in unmittelbarer Folge auf diese Aktion einer der Kämpfer die Offensive oder führt seine im Stand begonnene Angriffsaktion kontinuierlich fort, so ist der Übergang mit

    - der Kontrolle eines Kämpfers über seinen Gegner bzw.
    - mit sofortigem Ansatz einer Bodengrifftechnik bzw.
    - mit Beginn des Bodenkampfes abgeschlossen.

Der Übergang wurde nicht genutzt bzw. nicht durchgeführt, wenn folgende Merkmale auftreten:

  • Ein Kämpfer entzieht sich der Kontrolle durch seinen Gegner und steht aus der Bodenlage sofort wieder auf.
  • Beide Kämpfer nehmen den Bodenkampf nicht an und stehen unmittelbar nach Erreichen der Bodenlage wieder auf.
  • Beide Kämpfer nehmen den Bodenkampf nicht an und verharren passiv in der Bodenlage.
  • Beide Kämpfer gelangen in die Bodenlage außerhalb der Kampffläche.
  • Einer oder beide Kämpfer begehen während des Übergangs eine verbotene Handlung.

Die Übersicht (Verlaufsmodell Übergang vom Stand- zum Bodenkampf) fasst das Spektrum der durch die jeweils unterschiedlichen Aktivitäten beider Kämpfer gekennzeichneten Übergangsmöglichkeiten zusammen. Damit soll zunächst eine möglichst vollständige Übersicht zum Ablauf und den auftretenden Aktivitäten und Positionen geschaffen werden.

Verlaufsmodell Übergang vom Stand- zum Bodenkampf

Von besonderem Interesse für die Einordnung und Kennzeichnung des individuellen, durch das technische Repertoire und die bevorzugte Kampfesweise jedes Kämpfers bestimmte Verhalten beim Übergang vom Stand- zum Bodenkampf ist die Stellung beider Kämpfer zueinander während und unmittelbar nach der 2. Übergangsphase. Dieser kurze Moment bietet den entscheidenden Ansatzpunkt für die Folgehandlungen, in der Bodenlage. Die räumliche Einteilung der Positionen beider Kämpfer zueinander ist dabei ein hilfreiches Ordnungsmittel, denn

  • alle im Judo-Standkampf begonnenen Aktionen verlaufen oder enden im Übergang in einer dieser Positionen,.
  • alle im Judo-Bodenkampf durchgeführten Aktionen beginnen, verlaufen bzw. enden in einer dieser Positionen.

Das bedeutet: Die Vielzahl verschiedener möglicher Wurftechniken oder anderer Aktionen im Stand und die Vielzahl möglicher Bodentechniken kreuzen sich in den dargestellten Positionsklassen. Damit kann der Umfang der vom Sportler zu erkennenden und zu beherrschenden Entscheidungsalternativen für die situationsangemessene Fortsetzung des Kampfes im Ergebnis des Übergangs Stand/Boden deutlich reduziert werden.

Allgemeingültige Verhaltensweisen beim Übergang Stand/Boden

Im Verlauf dieses Kampfabschnittes gibt es auf Grund der Technikvielfalt mehrere Möglichkeiten einer vorteilhaften Situationsnutzung. Für Ton und Uke treffen in der Ober- und Unterlage bestimmte Verhaltensweisen zu, durch deren Beachtung der Erfolg bei der Situationsverwertung maßgeblich mitbestimmt wird.

Für die Position Oberlage gilt:

  • Nutze jede sich bietende Gelegenheit zur Handlungsweiterführung im Bodenkampf!
  • Halte in jeder Phase des Übergangs den Kontakt zum Gegner aufrecht!
  • Wähle zweckmäßige Griffstellen (Kumi-kata) und Kontaktpunkte, die die Kontrolle des Gegners beim Übergang gewährleisten! Wechsle die Griffstellen bzw. Faßart nur, wenn es der Situationsverlauf erfordert!
  • Nutze die labile Gleichgewichtslage des Gegners für die Richtung deines Krafteinsatzes
  • Setze zweckmäßig und gezielt dein eigenes Gewicht zur Verstärkung der Kraftwirkungen ein!
  • Lass dich im Übergang nicht kontern!
  • Behaupte die Position Oberlage!
  • Vermeide die Beinseite des Gegners!
  • Kontrolliere die Schultern und/oder die Hüfte(n) des Gegners!
  • Schränke den Gegner in seiner Bewegungsfreiheit ein!
  • Schaffe dir selbst große Bewegungsfreiheit um den Gegner!
  • Nutze den Ablenkungseffekt nach einer Wurftechnik mit Wertung!
  • Setze konsequent nach, ohne die Wertung oder Entscheidung des Kampfgerichts abzuwarten!

Für die Position Unterlage gilt

  • Versuche deine Lage schnell zu ändern, bemühe dich, in die Position Oberlage zu gelangen
  • Bleibe frontal zum Gegner, wende ihm nicht den Rücken zu!
  • Versuche den Gegner zwischen den Beinen zu kontrollieren!
  • Lass keine Kontrolle bzw. Belastung deiner Schulter(n) und/oder Hüfte(n) zu!
  • Biete dem Gegner keine zusätzlichen Angriffspunkte (Arm, Hals)!
  • Nutze die Nachlässigkeit des Gegners nach Wertungserhalt zum eigenen Angriff!
  • Versuche eine Kampfunterbrechung zu erreichen durch: Verlassen der Kampffläche, Aufstehen, festes Umklammern des Gegners

Sicher ist es kaum möglich, alle der aufgeführten Verhaltensweisen gleichrangig und parallel zu berücksichtigen. Sinnvoll ist daher im Kampfeine Konzentration auf ein bis zwei Punkte die den individuellen Stärken und Neigungen entsprechen. Für das Training erhalten diese allgemeingültigen Verhaltensweisen den Charakter von Anweisungen an den Sportler. Damit werden sie zu Tätigkeitsaufforderungen, die eine charakteristische Art und Weise sowie eine bestimmte Qualität der Handlungen des Kämpfers verlangen.

Literatur:

Friedrich, Frank-Michael u.a.
“Zur Methodik der Entwicklung wettkampfwirksamer und stabiler Katame-waza im Hochleistungsbereich des DJV der DDR”
Leipzig, DHfK,Diplomaibeit 1977

Lehmann, Gerhard/Müller-Deck, Hans
“Judo”
Berlin 1987

Okano. lsao
“Vital Judo”
Wetzlar 1980

Radfon,Ralf
“Untersuchungen zur Kennzeichnung, Klassifizierung und Lösung von Kampfsituationen beim Übergang vom Stand- zum Bodenkampf in der Sportart Judo”
Leipzig, DHfK, Diplomarbeit 1987

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