Rangelzone Judomatte

Rangelzone Judomatte – Ein Interview mit Dr. Jan-Uwe Rogge

aus: Judo-Magazin 7/8 1999

Judo ist mehr als Sport, mehr als Wettkampf. Dies wird vor allem außerhalb der Judo-Szene gesehen. In einem Interview in der Zeitschrift stern (43/98) plädierte Familienberater und Pädagoge Dr. Jan-Uwe Rogge unter dem Titel “Erziehung – was ist das” sehr provozierend für Raufzonen im Kindergarten und in der Schule, für einen konstruktiven Umgang mit Aggression und deren Begrenzung durch Rituale, darüber, daß Kinder wieder lernen müßten, zu rangeln, ohne dem anderen weh zu tun, daß körperliches Erproben zur positiven Konfliktbewältigung notwendig ist. Rogge ist Autor der meist verkauften Erziehungsbücher der letzten 20 Jahre. Einer seiner Bestseller: “Kinder brauchen Grenzen”. Rogge plädiert vehement für Judo in Erziehungsarbeit und Therapie.

Das Judo-Magazin nahm dieses stern-Interview zum Anlaß einmal genauer nachzufragen, wie Jan-Uwe Rogge auf Judo als einen wichtigen Baustein seiner therapeutischen und pädagogischen Arbeit kam.

R.P. Gerade erzählten Sie mir, daß Sie auf Judo kamen, weil Sie sich schon lange mit dem Thema “Gewalt und Gewaltprävention” beschäftigen. Dabei haben Sie sich sehr bald “schräg” mit der öffentlich geführten Diskussion gefunden. Warum?

Rogge Die öffentliche Diskussion hat Aggression generell verdammt. Dabei ist Aggression etwas wichtiges, ist etwas Überlebensnotwendiges. Man muß sie nur gestaltet, in Rituale und Regeln gebunden, ausleben. Aggression ist zunächst etwas neutrales, bedeutet seine Position zu behaupten, Durchsetzungsvermögen. Im Judo gibt es keinen Gegner, der sich bereitwillig auf die Matte legen läßt. Sich durchzusetzen muß man lernen, jedoch im Rahmen von gesellschaftlichen und sportlichen Regeln.

“Schräg” gefunden habe ich mich auch deshalb, weil man in den 80er Jahren meinte, man könne in der therapeutischen Arbeit mit Sprache alles machen. Und man meinte, jede harmlose Rauferei führe in die Gewaltbereitschaft, in die Zerstörungswut hinein, was so nicht stimmt.

R.P. Als angehender Volkskundler und auch nach Ihrem Studium haben Sie sich zusammen mit Kollegen sehr intensiv diesem Thema gewidmet. Was haben Sie herausgefunden?

Rogge In einer Untersuchung konnte festgestellt werden, daß seit den 50er Jahren die Anzahl der Raufereien abgenommen hat, aber die Verletzungen und die Schwere der Verletzungen bei den übrig gebliebenen Raufereien zugenommen haben. Die Gewaltbereitschaft hat meines Erachtens nicht zu- oder abgenommen; das Sich-in-Regeln-nahe-treten gibt es aber immer weniger. Das hat für mich etwas damit zu tun, daß Raufrituale, Kampfrituale, wie wir sie z.B. bei Dorffesten oder Straßenkämpfen von Gangs feststellen können, nicht mehr da sind. Deshalb habe ich geguckt, ob es Sportarten gibt, die so etwas vermitteln.

Es gibt natürlich die These von der Versportlichung der Kinder- und Jugendkultur, d.h. alles was man früher so hier im Park machte, muß man nun im Sportverein tun. Ich finde das schon schade, daß Kinder und Jugendliche Judo machen müssen, damit die wieder raufen lernen. Besser wäre es, die würden das draußen machen, ohne Aufsicht.

R.P. Weshalb gerade Judo?

Rogge Ich habe in mehrere Richtungen geschaut. Fußball/Handball schieden schnell aus, weil es dort ja letztendlich nur um Grenzüberschreitungen geht. Wer am besten was austeilen kann, gewinnt. Aus dem Basketball/Volleyball habe ich einen Bereich in meine pädagogische Arbeit übernommen, nämlich die Auszeit. Beim Judo fand ich wichtig, daß es um eine direkte körperliche Auseinandersetzung geht, aber nie um die “Vernichtung” des Gegners, wie z.B. beim Boxen, sondern um dessen Achtung und das Respektieren seiner körperlichen Unversehrtheit. Hinzu kommt das sehr starke Beharren auf geregelten Abläufen. Daraus resultieren habe ich dann übrigens sogenannte “Kampfzonen” in Schulen angeboten, mit großem Erfolg.

R.P. Eine sehr provokante Idee für eine öffentliche Einrichtung. Sie haben diese “Kampfzonen” ja sogar schon für Kindergärten vorgeschlagen.

Rogge Ich habe sie natürlich bewußt als Provokation “Kampfzonen” genannt, weil ich schon wollte, daß sich ein paar Leute aufregen. Später dann habe ich den Begriff abgeschwächt in “Rangel- und Raufzonen”. Was mir beim Judo gefällt ist die Achtung, z.B. das Verneigen vor dem Gegner. In meinen Raufzonen im Kindergarten mache ich das auch so: “Bevor ihr rangelt, verneigt euch.”

Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu, der mich auf Judo brachte: In meiner therapeutischen Arbeit habe ich es mit vielen wahrnehmungsgestörten Kindern zu tun. Für Kinder mit Schwierigkeiten im taktilen, kinästhetischen Bereich schlage ich immer Judo vor.

Natürlich gibt es da Grenzen. Und diese liegen vor allem in der infrastrukturellen Versorgung mit Judo. Es ist relativ leicht im “Speckgürtel” um Hamburg herum. Aber in vielen Gegenden fehlt eine vereinsmäßige Versorgung im Bereich der “Pucky-Gruppen” der 6- bis 7-Jährigen.

Was ich dann erlebe, aber auch von Seiten der Eltern als Kritik höre, ist, daß es gemischte Gruppen so von 6 bis 10 Jahre gibt. Damit wird man den Jüngsten nicht gerecht. Wichtig für mich ist vor allem eine Altersdifferenzierung. Gerade diejenigen 6-/7-jährigen Kinder, die gerne gehänselt werden, die in der Schule körperlich unten dran sind, wenn die dann auch noch im Judo als “Schmeißsäcke” mißbraucht werden, dann haben die nach 14 Tagen keine Lust mehr. Die vielen positiven Aspekte von Judo z.B. im Bereich der Wahrnehmungsschulung kommen dann nicht mehr zum tragen, weil man diese Kinder nach solchen Negativerfahrungen nicht mehr dazu bewegen kann, zum Judo zu gehen.

Richtige Judoausbildung kann meiner Einschätzung nach erst ab dem 8ten, 9ten Lebensjahr beginnen. Dazu gehören von der Entwicklungspsychologie her betrachtet intellektuelle Kompetenzen. Was davor gemacht wird, ist eigentlich etwas anderes. Für die jüngeren Kinder so zwischen fünf und acht geht es mehr um den Körperausdruck. Wenn Kinder so etwa drei Monate in einer “Judo”-Gruppe sind, treten die ganz anders auf. Gerade so ganz kleine, die immer Opfer werden, treten viel selbstbewußter auf, “wackeln” nicht mehr so und gewinnen an Selbstvertrauen.

R.P. Judo wird gerne als therapeutisches Medium von Kinderärzten und –psychologen empfohlen. Welche Vorteile sehen Sie gegenüber anderen Sportarten.

Rogge Vorteile sehe ich zum einen darin, daß man anfaßt und damit auch die Griffkonstanz ausprobiert. Im taktilen, kinästhetischen Bereich kenne ich keine vergleichbare Sportart. Hier gibt es noch spezielle Massageformen, die aber passiv ablaufen. Auch bei Wahrnehmungsstörungen im Bereich der Grob und Feinmotorik sehe ich kaum eine andere Sportart, außer vielleicht Schwimmen durch das Medium Wasser.

Und Judo ist eine gute Hilfestellung wenn die Wahrnehmungsstörungen in den Aufmerksamkeits-/Konzentrationsbereich hineingehen. Was ich für ganz wichtig im Judo erachte, sind die Auszeiten, die man hat: Sich wieder sortieren, sich wieder zueinander wenden. Die Abstände zwischen Konzentration und Entspannung sind sehr wichtig.

R.P. Würden Sie also eher für einen traditionellen Unterricht plädieren. Wenn demonstriert wird, setzen sich alle in eine Reihe?

Rogge Genau. Gerade solche Rituale, geregelten Abläufe, wie das Verneigen, das gemeinsame Begrüßen usw. sind für solche Kinder sehr wichtig. Aus meiner therapeutischen Arbeit muß ich geradezu davor warnen, Rituale im Judo herauszuschmeißen.

Wenn ich Judo unter therapeutischen Gesichtspunkten sehe, dann würde ich immer in Kleinstgruppen arbeiten; und dann sollte derjenige, der Judo anbietet, auch Ahnung haben von solchen Wahrnehmungsstörungen.

Wahrnehmungsstörungen werden meistens zwischen dem 4ten und 5ten Lebensjahr frühestens festgestellt. Dann versucht man es im allgemeinen über ergotherapeutische Maßnahmen, die ich gut finde, die aber, wenn die Kinder größer werden, auch ihre Grenzen haben. Und dann muß man einfach einen Qualitätssprung in der Verarbeitung machen.

R.P. Judo-Übungsleiter sind meistens nicht therapeutisch ausgebildet. Sehen Sie darin irgendwelche Konflikte oder ist es Ihrer Meinung nach in Ordnung, daß da auch Fehler gemacht werden?

Rogge Der Übungsleiter, der mit Kindern arbeitet, muß zunächst die Liebe zum Kind haben, und darf nicht etwa in dem womöglich technisch begabten Kind den zukünftigen Olympiasieger sehen. Daß ist bei allen Dingen so, beim Musiklehrer, beim Fußballtrainer. Was ich für wichtig erachte, sind Grundkenntnisse in Hinblick auf Wahrnehmungsstörungen, wobei nicht nur die Übungsleiter Defizite haben, sondern auch Kinderärzte. Mein Rat: Wenn ein solch auffälliges Kind in eine Gruppe kommt, sollte der Übungsleiter mit einem Ergotherapeuten zusammenarbeiten.

Ein riesen Nachteil auf diesem Gebiet ist, daß es kaum ein wirklich verständliches Buch über Wahrnehmungsstörungen gibt. Ich weiß aber, daß es im Moment im Trend ist, solche Kinder, wenn sie älter sind, auch zum Judo zu geben. Ich plädiere nachhaltig dafür, möglicherweise ohne zu wissen, was im einzelnen damit auf den Verein zukommt.

R.P. Da sehe ich schon die Gefahr, daß man Übungsleiter/innen abschreckt oder überfordert.

Rogge Das ist ein generelles Problem, weil Sport nämlich zunehmend kompensatorische Funktionen übernehmen muß. Der Sport nimmt eine Ausgleichsfunktion für Defizite und Fähigkeiten ein, die früher beim Spielen im Park selbstständig erworben und ausgeglichen wurden. Außerdem bekommt der Verein, wie auch die Schule, heute Aufgaben zugeschrieben, die eigentlich Aufgaben der Familie sind.

R.P. Erziehen oder Judo unterrichten? Viele Eltern bringen ihre Kinder zum Judo unter der Prämisse, die sollen hier ´mal ein bißchen Disziplin und Ordnunghalten lernen.

Rogge Zunächst einmal sehe ich darin etwas Positives, wobei ich den Eltern immer sage, eine Rangel-/Raufdisziplin zu erlernen ist Sache des Zuhauses. Da muß der Vater den Kinder schon ´mal das Raufen ermöglichen. Und 10 Minuten täglich raufen ist unendlich viel besser, als in einem Verein zu sein. Was Kinder zuhause erlernen ist unendlich viel wichtiger als das, was sie im Verein erlernen, weil zuhause eine viel stärkere Beziehung möglich ist. Der Verein hat hingegen noch eine andere Bedeutung, nämlich sich in einem anderen Kontext zu bewegen, d.h. auszuprobieren wie geht es mir im Umgang mit anderen Kindern, anderen erwachsenen Bezugspersonen. Diese Kombination von Zuhause und Verein ist für mich eigentlich das Optimale.

R.P. Aber in welcher Familie wird denn heute noch gerauft?

Rogge Nur noch in 1/3 aller Familien und diese Zahl geht seit Mitte der 70er Jahre, seit ich diese Untersuchungen betreibe, kontinuierlich zurück (von ungefähr 50%). Ich kann mich aber dennoch mit dem Gedanken anfreunden: Wir können es zuhause nicht, aber du kannst es im Verein, quasi als Ersatz.

R.P. ... dann aber nur einmal die Woche und nicht dann, wenn das Bedürfnis dazu da ist.

Rogge Problematisch wird es für mich, wenn gesagt wird, du gehst zum Judo, damit du dort Disziplin lernst, d.h. wenn die eigentliche Erziehungsaufgabe delegiert wird. Judo oder auch Therapie bekommt dann einen Ersatzstatus; dann wird es problematisch, weil solch ein Kind jede Gruppe “schmeißt”. Dazu kann der Übungsleiter noch so gut ausgebildet sein. Wenn ein Kind merkt, ich werde abgeschoben oder meine Eltern sind zu feige, mit mir einen Erziehungsprozeß zu gestalten, daß muß jetzt ersatzweise Karl-Heinz im Judo-Unterricht machen, dann macht diese Kind Karl-Heinz fertig.

R.P. Sie haben geschrieben, Kinder brauchen feste Persönlichkeiten, an denen sie sich orientieren, reiben können. Ist das im Sportverein leichter als zuhause?

Rogge Ein Übungsleiter, der mit Kindern etwas macht, muß sich vom Kind her definieren. Er muß Spaß an der Arbeit mit Kindern haben, Spaß daran, zu wissen, was Kinder wollen. Der muß Bezugsperson sein, der diesen Spaß vermittelt, aber auch, wenn die Kinder über die Grenzen schlagen, sagt: “Hier ist Schluß; jetzt haben wir genug gealbert, jetzt machen wir in der nächsten ½ Stunde das, was ich gerne mit euch machen möchte”. Es ist leider so, daß das leichter im Verein ist, weil sich viele Eltern das so heute nicht mehr trauen.

Übungsleiter im Verein haben eine Erziehungsaufgabe, wichtiger aber ist mir: Sie sind Bezugspersonen; sie stehen in Beziehung. Bei Kindern zwischen 6 und 10 Jahren muß das eine gewisse Persönlichkeit sein. Das muß keine Sachautorität sein, das muß eine Beziehungsautorität sein, die eben auch Judo vermittelt.

Hinzu kommt noch folgendes: Für viele Jungen ist heute der Verein die Möglichkeit, männliche Bezugspersonen zu erleben. Bemerkenswert ist: Egal ob Junge oder Mädchen, Kinder raufen lieber mit männlichen Bezugspersonen. Ein Kinder drückte das einmal so aus: “Meine Mama rauft mit dem Kopf”. Sie rauft, weil sie vielleicht irgendwo einmal in einem meiner Bücher gelesen hat, daß das wichtig ist, oder sie rauft, weil der Papa nicht da ist.

R.P. Herr Rogge, wir haben bisher viel über Judo für Kinder gesprochen. Ihr neues Buch widmet sich der Pubertät (“Pubertät – Loslassen und Haltgeben”). Wie sehen Sie Judo für Jugendliche?

Rogge Gerade für die zweite Phase der Pubertät ist Judo besonders geeignet. Nicht um sich selbst verteidigen zu können, sondern um sich körperlich auszudrücken. Jugendliche in diesem Alter sind nicht mehr nur Objekt, sondern auch Subjekt, so daß man 14-/15-Jährige auch im Verein einbinden kann. Dann können sie selber aktiv werden, z.B. als “Leiter/innen” für die Kleinen.

R.P. Leider zeigt unsere Mitgliederentwicklung, daß gerade die 12- bis 14-Jährigen die Vereine verlassen.

Rogge Es ist eine allgemeine Erfahrung in den Vereinen, daß die Kinder mit 10 oder 11 Jahren “keinen Bock mehr haben”; die haben ein Stück weit vom Verein “die Schnauze voll” und wollen sich selbst organisieren. Man “rettet” sozusagen einige wenige in die Gruppe der 14/15-Jährigen hinein. Aber die Hoffnung besteht, daß je mehr von unten nachdrücken, desto mehr auch in nächste Altersgruppe hineingehen.

Gerade in der Pubertät ist der Verein als soziale Aktivität interessant. Dazukommen, mitfahren usw. ist wichtiger als der Wettkampf selber. Sport im Verein heißt ja mehr als nur Sport zu bekommen, heißt ja auch, sich zugehörig zu fühlen. Die Pubertierenden aktiv als Gestalter einzubinden ist dabei eine wichtige Voraussetzung, um sie zu halten.

Mit Dr.Rogge sprach Ralf Pöhler, Vizepräsident des DJB

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